Mit Grundsatzentscheid 6B_525/2024 vom 15. Januar 2025 (BGE-Publikation vorgesehen) hat das Bundesgericht eine wegweisende Entscheidung zur Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes gefällt: Die Strafverfolgungsbehörden sind nicht berechtigt, im Rahmen einer Hausdurchsuchung die Bekanntgabe von PIN-Codes oder anderen Zugangsdaten zu mobilen Endgeräten zu verlangen, ohne die beschuldigte Person zuvor ausdrücklich über ihr Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht zu belehren. Da die Preisgabe solcher Zugangsdaten eine aktive Mitwirkung an der eigenen Belastung bedeuten kann, fällt sie unter das Mitwirkungsverweigerungsrecht gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO, weshalb ein Beschuldigter nicht zur Offenlegung eines PIN-Codes oder Passworts gezwungen werden kann.
Sachverhalt
Im Rahmen einer Hausdurchsuchung forderten Polizeibeamte einen Beschuldigten auf, den PIN-Code seines Mobiltelefons bekanntzugeben, ohne ihm zuvor die ihm zustehenden Verfahrensrechte zu eröffnen. Die Behörden rechtfertigten diese Vorgehensweise mit der Notwendigkeit, die Hausdurchsuchung zu erleichtern, und qualifizierten die Frage als rein administrativen Vorgang.
Erwägung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht widerspricht dieser Praxis und hält fest, dass die Erfragung eines PIN-Codes ohne vorgängige Belehrung einen Verstoss gegen den nemo-tenetur-Grundsatz sowie gegen Art. 158 StPO darstellt. Die zentralen Erwägungen:
- Wird eine Person als beschuldigt betrachtet, ist sie über ihr Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht zu belehren. Eine informelle Erfragung von Zugangsdaten zur Umgehung dieser Pflicht ist unzulässig. Das Instrument der informellen Befragung darf nicht dazu genutzt werden, gesetzliche Verfahrensgarantien von Art. 158 und 159 StPO zu unterlaufen
- Nach überwiegender Lehrmeinung ist der Einvernahmebegriff materiell zu verstehen, nicht bloss formell. Entscheidend ist, ob eine Äusserung durch eine Strafverfolgungsbehörde provoziert wurde. Falls ja, liegt eine Einvernahmesituation vor, die einer Belehrungspflicht unterliegt.
- Die Strafverfolgungsbehörden können sich nicht darauf berufen, dass die Erfragung des PIN-Codes lediglich der erleichterten Durchsuchung diene, da es sich hierbei um eine Vernehmung im materiellen Sinne handelt.
- Die ohne Belehrung erhobene PIN-Code-Angabe sowie sämtliche daraus gewonnenen Erkenntnisse sind absolut unverwertbar (Art. 141 Abs. 1 StPO). Auch aus den strittigen Beweisen gewonnene Folgebeweise sind gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO unverwertbar ("fruit of the poisonous tree"), es sei denn, diese hätten auch ohne die rechtswidrig erlangten Daten ermittelt werden können. Im vorliegenden Fall war dies nicht der Fall, womit auch die darauf gestützten Beweise ausgeschlossen wurden.
- Der nemo-tenetur-Grundsatz schützt das Recht auf Selbstbelastungsverweigerung. Ein wirksamer Verzicht darauf setzt voraus, dass die betroffene Person zuvor über dieses Recht informiert wurde und nachweislich verstanden hat, worauf sie verzichtet. Dies gilt umso mehr, wenn die gemachten Angaben Eingang in die Strafakten finden, sei es als Protokolle, Aktennotizen oder Rapporte – unabhängig davon, ob diese im Polizeifahrzeug, auf dem Weg zu einem Augenschein oder während einer Hausdurchsuchung erfolgen.
Fazit für die Praxis
Beschuldigte in einem Strafverfahren sind nicht verpflichtet, PIN-Codes oder Passwörter herauszugeben. Eine solche Aufforderung sollte unter Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht zurückgewiesen werden. Hausdurchsuchungsprotokolle sind sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob Zugangsdaten ohne vorherige Belehrung erhoben wurden. In einem solchen Fall ist die Unverwertbarkeit der Beweise geltend zu machen.
Das Bundesgericht setzt mit diesem Entscheid ein klares Zeichen für die Wahrung der Verfahrensrechte im Strafprozess. Die Strafverfolgungsbehörden sind verpflichtet, die Belehrungspflichten aus Art. 158 StPO strikt zu beachten. Der Entscheid stärkt damit nicht nur die Rechte der Beschuldigten, sondern präzisiert auch die Grenzen zulässiger Ermittlungsmassnahmen im Kontext von Hausdurchsuchungen und digitalen Beweismitteln.